Inklusion als Selbstverständlichkeit – Ein Besuch im Musikunterricht der Grundschule am Lindener Markt

01. November 2016 | wimadimu-Magazin

Die Grundschule am Lindener Markt in Hannover ist ein echter Vorreiter: Schon seit rund 15 Jahren wird hier inklusiv gearbeitet, und zwar nicht nur in einzelnen Klassen, sondern flächendeckend in der ganzen vier- bis fünfzügigen Grundschule. Doch nicht nur das: Auch die Kooperation mit der Musikschule der Landeshauptstadt Hannover läuft schon so lange, dass inklusiver Musikunterricht hier für alle selbstverständlich ist. Zum Schuljahr 2016/17 wurde die Schule auch zur Ganztagsschule ausgebaut, es gibt einen Aufzug und Rollstuhlrampen, sodass Barrierefreiheit gegeben ist und alle Schülerinnen und Schüler die Aula und den Musikraum im 2. Obergeschoss bequem erreichen können. Dort arbeitet die Rhythmikerin Annette Hartung, die seit 2014 an der Lindener Grundschule unterrichtet.

Sie hat bereits in ihrem Studium Erfahrungen mit Kindern mit besonderem Förderbedarf gesammelt und ist in zwei WimadiMu- Projekten an der Schule im Einsatz. Für die zweiten Klassen bietet sie ein Orientierungsangebot mit den Instrumenten des schuleigenen Orchesters – Akkordeon, Kontrabass, Saxonett, Querflöte und Percussion – an, in dem aber auch viel gesungen und getanzt wird. Die Kinder werden spielerisch an Musik herangeführt und können sich für eines der vorgestellten Instrumente entscheiden, das sie im Schuljahr darauf im Kleingruppenunterricht und – das ist das Besondere – sofort im Orchesterverbund lernen. Im vergangenen Schuljahr hat Annette Hartungs Instrumentenkarussell besonders gefruchtet, sodass es dieses Schuljahr sogar zwei Orchester mit insgesamt 55 Kindern gibt! Für die außergewöhnliche Besetzung des Orchesters arrangieren Annette Hartung und ihre Kollegin Malena Böse, die Musiklehrerin an der Grundschule ist, Volks- und Kinderlieder, aber auch Weltmusik und Songs aus Musicals, die je nach Schwierigkeitsgrad vereinfacht werden müssen. Völlig selbstverständlich sind in beiden Angeboten auch Kinder mit besonderem Förderbedarf – und ihre jeweiligen Begleiter – dabei. Für diese Kinder werden, ganz nach ihrem speziellen Bedarf, auch Einzelstunden, z. B. besonderer Musikunterricht, angeboten. In der heutigen Musikstunde ist das Saxonett an der Reihe. Das Instrument, dessen Korpus dem einer Blockflöte ähnelt, hat ein Klarinettenmundstück, das ein späteres Umsteigen auf Klarinette oder Saxofon erleichtert. Ebenso gebaut ist der Dood, der im Gegensatz zum Saxonett komplett aus Plastik und damit noch kostengünstiger in der Anschaffung ist. Annette Hartung zeigt die Instrumente und spielt sie an, ebenso wie die Blockflöte zum klanglichen Vergleich. Nach knapp 20 Minuten Instrumentenvorstellung gibt es aber noch Musik. Gemeinsam mit den Kindern singt sie ein afrikanisches Lied, das zuerst mit Bewegung, dann mit Boomwhackers, Klanghölzern und Rasseln begleitet wird. Viel Zeit bleibt nicht, aber die Kinder haben sichtlich Spaß am Singen und Spielen, auch wenn beides gleichzeitig nicht immer einfach ist! Nach sechs bis acht Wochen hat eine zweite Klasse das grundlegende Orientierungsangebot durchlaufen und die nächste zweite Klasse ist an der Reihe.

Auch die Orchesterprobe der Dritt- und Viertklässler beginnt mit gemeinsamem Singen, dazu klatschen die Kinder im Rhythmus. Nach und nach spielen einige Kinder auf ihren Instrumenten dazu, zwei verschiedene Rhythmen müssen nebeneinander gehalten werden. Dabei ist es von Vorteil, dass Annette Hartung und Malena Böse im Team arbeiten. Wenn Malena Böse vor dem Orchester steht und dirigiert, kann Annette Hartung einzelnen Kindern helfen oder bei den Percussionisten auf der Djembé mitspielen. „Jedes Kind wird nach seinen Möglichkeiten gefördert, egal ob es eine Behinderung hat oder nicht“, erklärt Annette Hartung. „Wir haben uns bewusst für ein heterogenes Orchester entschieden, so haben alle mehr Spaß, können voneinander lernen und wir haben mehr Möglichkeiten.“ Die Drittklässler, die momentan erst wenige Töne auf ihren Instrumenten spielen können, profitieren deutlich von den Viertklässlern im Orchester, die die Melodie übernehmen und rhythmisch sicherer sind. Das zeigt sich besonders beim zweiten Stück der Probe, „Obstsalat“, einem vierstimmigen Kanon. „Wer hat sich aus den vier Zeilen denn schon eine ausgesucht, die er uns mal vorspielen möchte?“, fragt Malena Böse in die Runde. Einige Schülerinnen und Schüler trauen sich, die anderen müssen herausfinden, welche der vier Zeilen es war. „Wenn es nicht richtig erraten wird, dann weißt du, dass du den Rhythmus nicht deutlich genug gespielt hast“, erklärt die Dirigentin einem Schüler, der beim zweiten Mal prompt exakter spielt. Nach und nach werden die vier Zeilen des Obstsalats zusammengesetzt, bis alle Kinder gleichzeitig spielen. Jetzt stehen die Verbesserung des Rhythmus, des Zusammenspiels und dynamischer Feinheiten auf dem Plan. Für alles haben die beiden Lehrerinnen einen guten Tipp parat. „Immer mittwochs nach der Probe besprechen wir, was wir in der kommenden Woche machen möchten“, erklärt Malena Böse. Am Ende des Schuljahres, für das große Abschlusskonzert, werden die beiden Lehrerinnen die zwei Orchester wieder zusammenführen. Und auch dann werden Beeinträchtigungen einzelner Kinder keine Rolle spielen. Denn hier zählt nur eins: der Zusammenklang!